Mai 2005:

Warum feiern wir Schiller heute?

Bei der Gedenkstunde am 9. Mai vor der Schillerstatue am Mainzer Schillerplatz erinnerte Gabriele Liebig vom Schiller-Institut auch an das Ende des Zweiten Weltkriegs vor 60 Jahren.

Schiller-Gedenkfeier in Mainz
Am 9. Mai hatten das Schiller-Institut und die BüSo zu einer Gedenkstunde am Mainzer Schillerdenkmal eingeladen. Gabriele Liebig (Bildmitte), Mitglied des BüSo-Landesverbands Rheinland Pfalz, hielt eine Ansprache und Lutz Schauerhammer trug die Worte des Marquis Posa aus "Don Carlos" vor und legte ein Bouquet weißer Rosen nieder. Der Chor des Schiller-Instituts sang, und Mainzer Bürger sangen mit, als Schillers "Ode an die Freude" und das Volkslied "Die Gedanken sind frei" angestimmt wurde. Gleich im Anschluß an diese Veranstaltung erschien der Mainzer Oberbürgermeister Beutel und hielt ebenfalls eine kurze Ansprache. Die "Allgemeine Zeitung" berichtete unter der Überschrift "Ideen sind noch immer aktuell": "Mit einer Feierstunde gedachten das Schiller-Institut und Oberbürgermeister Jens Beutel gemeinsam mit Mainzern des 200. Todestages von Friedrich Schiller am Denkmal auf dem Schillerplatz."

I.

Wir gedenken heute nicht nur Friedrich Schillers 200. Todestag. Am 8./9. Mai vor 60 Jahren endete auch der Zweite Weltkrieg, der mit dem Überfall auf Polen begann, sich dann gen Westen wandte und schließlich, mit dem unsäglichen "Unternehmen Barbarossa", gegen Rußland. Ich möchte in diesem Zusammenhang an ein Stück von Schiller erinnern, das die Tragödie eines auf "regime change" angelegten Angriffskriegs zum Inhalt hat. Es ist Schillers letztes Drama, das leider Fragment geblieben ist: Demetrius. Der angebliche Sohn Iwans des Schrecklichen, Dmitrij, wird von polnischen Geopolitikern benutzt, um Boris Godunow zu stürzen und Rußland zu erobern. Dmitrij hält sich aber anfangs wirklich für den Zarensohn, und daher regt sich sein Gewissen, als er mit dem polnischen Kriegsheer an der Grenze zu Rußland steht.

Die Begleiter sagen: "Herr, du siehst dein Reich vor dir geöffnet - das ist russisch Land ... Hier diese Säule trägt schon Moskaus Wappen, dort fließt der Dnjepr hinter Tschernigow, das ist die Desna, Herr ... Was dort am fernen Himmel glänzt, das sind die Kuppeln von Sewerisch Nowgorod ... Doch ist's ein kleiner Anfang nur, o Herr, des großen Russenreichs, denn unabsehbar streckt es der Morgensonne sich entgegen."

Demetrius aber ist betroffen: "Welch heitrer Anblick! Welche schöne Auen! ... Auf diesen schönen Aun wohnt noch der Friede, und mit des Krieges furchtbarem Gerät erschein ich jetzt, sie feindlich zu verheeren!"

Die Geschichte endet als Tragödie, auch für den Angreifer - wie der Zweite Weltkrieg.

II.

Für uns Nachkriegskinder machte das Kriegsende vor 60 Jahren den Weg frei für eine neue Republik, für das Grundgesetz von 1949, für den Wiederaufbau. Die Bundesrepublik Deutschland sollte besser als die Weimarer Republik gewappnet sein gegen faschistische Einflüsse, und darum ist das Grundgesetz so, wie es ist: Allem übrigen verbindlich vorangestellt ist Art. 1: "Die Würde des Menschen ist unantastbar". So wie alle wichtigen Ideen unserer deutschen Verfassung ist dies eine Schillersche Idee: Ganz besonders den Künstlern gab Schiller den Auftrag:

Der andere wesentliche Grundgesetzartikel ist der Art. 20, der nun im Rahmen der Neoliberalismus-Debatte in Erinnerung gerufen wurde: "Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat" heißt es da. Der Sozialstaat ist also in unserem Grundgesetz festgeschrieben, auch durch den Satz "Eigentum verpflichtet". Es verpflichtet nämlich zu sozialem Handeln im Sinne des Gemeinwohls. Niemand hat das Recht, aus dem Elend der anderen Nutzen und Profit zu ziehen. Auch dies ist eine Schillersche Idee. Eine Xenie von Schiller trägt die Überschrift:

Der gleiche Art. 20 unseres Grundgesetzes enthält das Widerstandsrecht, das Recht, vorzugehen gegen alle, die diese Verfassungsprinzipien beseitigen wollen:

Als Schillerfreunde wissen Sie natürlich: Auch diese Idee ist uns in Schillers Werk überliefert. Der Dichter formulierte das Recht auf Widerstand in Verteidigung der unveräußerlichen Menschenrechte im Rütlischwur der Schweizer Eidgenossen:

III.

Um unsere Republik zu erhalten, brauchen wir mündige Staatsbürger, "frei durch Vernunft, stark durch Gesetze, durch Sanftmut groß und reich durch Schätze", die schöpferische Menschen im Laufe der Geschichte zum wissenschaftlichen Fortschritt beigesteuert haben.

Schiller war es auch, der eine Methode der Erziehung zur Freiheit und Vernunft erfand - durch die Dichtung nämlich, Erziehung durch Schönheit - ästhetische Erziehung eben.

In seinen Gedichten und vor allem in seinen historischen Dramen hob er die Zuschauer auf die Weltbühne, wo "um der "Menschheit große Gegenstände, um Herrschaft und um Freiheit wird gerungen" - damit sie selbst in die Lage versetzt werden, an diesem Kampf aktiv teilzunehmen. Im Prolog zum Wallenstein heißt es:

IV.

Die Schillerzeit war eine Zeit, in der es um den großen Gegenstand der politischen Freiheit ging. Als Schiller seine ersten Stücke schrieb, Die Räuber (1781) und Kabale und Liebe, da tobte der Amerikanische Unabhängigkeitskrieg, und viele deutsche Fürsten verkauften ihre Untertanen als Söldner an die Engländer, um in Amerika gegen die Soldaten George Washingtons zu kämpfen, die der preußische General von Steuben ausgebildet hatte. Die Art und Weise, wie Schiller diesen Menschenhandel in Kabale und Liebe anprangerte, war eine Sensation. Ein alter Kammerdiener bringt der Mätresse des Fürsten, der Lady Milford, einen teuren, aus Venedig herbeigeschafften Schmuck.

Erstaunt fragt die Lady: "Mensch! Was bezahlt dein Herzog für diese Steine?"

Der Kammerdiener entgegnet: "Sie kosten ihn keinen Heller ... Gestern sind 7000 Landskinder nach Amerika fort - Die zahlen alles ... Edelsteine wie diese da - ich hab auch ein paar Söhne darunter."

Die Lady ist entsetzt: "Soll ich den Fluch seines Landes in meinen Haaren tragen!"

In Amerika siegte die Republik, doch in Europa gingen die Dinge politisch sehr übel. 1805, als Schiller starb, war der Diktator Napoleon dabei, den ganzen Kontinent zu unterwerfen.

V.

Schiller war und ist ein Volksdichter der Freiheit, der schöpferischen Vernunft und der Menschenwürde. An seinen runden Geburtstagen und Todestagen manifestierte sich dies in Massenkundgebungen und Volksfesten in Deutschland und rund um die Welt.

Schillers 100. Geburtstag im Jahre 1859 wurde nicht nur überall in Deutschland, sondern auch in Paris, Stockholm, Amsterdam, Prag, Bukarest, St. Petersburg, Warschau, Smyrna, Konstantinopel, Algier und im fernen Amerika gefeiert. Die Feste dauerten bis zu einer Woche. In Deutschland waren die Umzüge zu Ehren des großen Dichters zugleich die größte politische Demonstration seit der gescheiterten Revolution von 1848: Es war eine Volksbewegung für einen einheitlichen deutschen Verfassungsstaat. In den jungen USA wurden die von deutschen Einwanderern organisierten Schillerfeiern zu einer machtvollen Unterstützung für die Wahl Abraham Lincolns zum amerikanischen Präsidenten.

Der 100. Todestag im Jahre 1905 fiel wiederum zusammen mit dramatischen welthistorischen Entwicklungen. Das feudalistische System war unhaltbar geworden, in Deutschland wie in Rußland, wo in diesem Jahr die Revolution begann. Vor dem Winterpalais in St. Petersburg kam es zu einer Massendemonstration, die blutig zusammengeschossen wurde. Mehr als 1000 Demonstranten kamen dabei um.

In Deutschland brach Anfang 1905 der große Ruhrstreik aus. Die massive Steigerung des Kohleabbaus beruhte nämlich nicht auf der Einführung technologischer Neuerungen, sondern auf schamloser Ausbeutung der schieren Muskelkraft der Kumpel, vor allem der Zuwanderer aus Polen. Es begann am 7. Januar mit einem wilden Streik auf der Zeche "Bruchstraße", in den kommenden Wochen streikten bis zu Dreiviertel der Arbeiter im Ruhrgebiet: Sie forderten 15% mehr Lohn und die Wiederherstellung der 8-Stunden-Schicht.

Den Bericht über den Streikausbruch stellte die Bergarbeiterzeitung, das Organ des Bergarbeiterverbandes, am 14. Januar 1905 unter das Motto: "Ja, eine Grenze hat Tyrannenmacht." Der theoretische Kopf der Bergarbeiter-Gewerkschaft im Ruhrgebiet, Otto Hue, war der Ansicht, man müsse "Schiller leben!" Mitten im Ruhrstreik hielt er Schillerreden. Die Zeitschrift Kunstwart brachte darüber einen Artikel, der am 15. Februar, noch vor Ende des Streiks, in der Dortmunder Arbeiterzeitung abgedruckt wurde. Darin heißt es:

Und an Schillers Todestag selbst, dem 9. Mai, hieß es in der Rheinischen Zeitung über Hues Reichstagsrede: "Ein Stück Schiller gelebt, ist mehr als in hundert Versammlungen gefeiert. Deshalb halte ich für die bedeutsamste aller Schillerwürdigungen dieses Jahres jene, die sich im Deutschen Reichstag abspielte, als von dem großen Streik der 200 000 rheinisch-westfälischen Bergarbeiter die Rede war. 'Im Schillerjahr', rief damals der Bergmann Hue im Deutschen Reichstag aus, 'wollen Sie sich den bescheidenen Forderungen der Arbeiter widersetzen?' Heißer ist dem Großen nie gehuldigt worden als in jener Beschwörung! Daß die streikenden hungernden Bergarbeiter, die für ein bißchen mehr Leben am Tage im Lichte stritten, in ihrer Pein des Dichters erhabenen Schatten zitierten, wie Fromme den Namen ihres Schutzpatrons in Stunden der Gefahr vor sich hinmurmeln, wahrlich, dies ist eine aus dem Innern dringende, unwillkürliche Huldigung, die mehr zählt als alle ausgeklügelten, wohl vorbereiteten Schiller-Festreden, die in diesen Tagen über das deutsche Volk herniederprasseln. Nur wer in sein Arbeitsleben einen Funken Schillerschen Feuers verwoben hat, hat das Recht auf Schillers Verehrung!" (S.176)

Und in der Dortmunder Arbeiterzeitung hieß es am gleichen Tag: "Schillers Erben sind wir!" (S.177)

VI.

Und wie feiern wir Schiller heute im Jahre 2005? Um der Menschheit "große Gegenstände" geht es auch heute. Zum Beispiel um den Erhalt der Republik, des Sozialstaats und der freiheitlich-demokratischen Grundordnung! Darum geht es im Kampf gegen das Regime Bush-Cheney in den USA, und darum geht es auch hier bei uns. Nur haben es viele noch nicht bemerkt: Wir stehen in Gefahr, die in unserem Grundgesetz verbrieften Rechte zu verlieren, wenn dieses Grundgesetz durch die EU-Verfassung zur Verfassung zweiter Klasse degradiert würde.

Es ist wahr: Die Europäische Union gilt besonders in solchen Weltregionen als bewundernswertes Vorbild, wo zwischen Ländern Krieg und Feindschaft herrscht, wie im Nahen Osten z.B. Denn nach dem letzten Krieg, der nun seit 60 Jahren hinter uns liegt, haben zuerst die ehemaligen Erzfeinde Frankreich und Deutschland in Freundschaft zueinander gefunden, dann kamen Italien und die anderen europäischen Länder hinzu. Auf immer mehr Gebieten arbeitete man immer enger miteinander zusammen. Nun aber besteht die Gefahr, daß mit dem EU-Verfassungsprojekt durch die Entwertung der hergebrachten Verfassungen der Mitgliedstaaten und durch die supranationale Unterdrückung von deren existentieller Staatlichkeit ebendieses Europa der Freundschaft und Zusammenarbeit zerrüttet wird.

Was bedeutet es für unsere Republik, daß es in der EU-Verfassung weder einen Art. 1 noch ein Widerstandsrecht wie in Art. 20 gibt, und auch keinen Passus, daß Eigentum verpflichtet! Nicht einmal die Todesstrafe ist mehr sicher abgeschafft, wenn einmal die EU-Verfassung als oberstes Recht gelten würde. Dies wird in der Verfassungsbeschwerde erörtert, über die das Bundesverfassungsgericht sehr bald zu entscheiden haben wird.

Aber die Bürger müssen sich auch selbst darum kümmern.

Das Allerbeste an diesem Schillerfest 2005 ist, daß die jungen Leute von der LaRouche-Jugendbewegung sich der Schillerschen Ideen angenommen haben, daß sie sich als "Schillers Erben" fühlen wie die sozialdemokratischen Bergarbeiter vor 100 Jahren und uns alle aufrufen, die Republik zu verteidigen wie damals Johanna von Orleans.

Es ist ja klar, warum alle, die sich für den Fortschritt der Menschheit, für eine gerechtere Weltordnung einsetzen, Schiller auf ihr Banner schreiben. Enden wir mit einem Gedicht von Karl Severing, das in der "Volkswacht Bielefeld" erschien und bei der Schillerfeier der Freien Volksbühne 1905 als Prolog gesprochen wurde. Darin heißt es:

Hoch lebe unser Friedrich Schiller!


Zitate aus: Wolfgang Hagen, Die Schillerverehrung in der Sozialdemokratie, J.B. Metzler, Stuttgart 1977


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